Die Corona-Pandemie stellte viele Unternehmen vor neue Herausforderungen. Veränderungen wurden angestoßen, bestehende Transformationsprozesse beschleunigt.
In unserer Mixed-Media-Interviewreihe “Pioniere des Wandels” führen wir in unregelmäßigen Abständen Gespräche mit Vordenkern aus der Wirtschaft, die sich besonders für den Wandel innerhalb ihres Unternehmens einsetzen.
Heute im Interview: Alexandra Heinrichs, VP HR DACH & Middle Europe bei Unilever
Culcha: Frau Heinrichs, das Jahr 2020 hat spätestens gezeigt, wie zentral HR für das Funktionieren von Unternehmen in diesen dynamischen Zeiten ist. Gleichzeitig habe ich aber manchmal den Eindruck, dass diese Verantwortung – außerhalb des puren Troubleshootings – nicht gern wahrgenommen wird. Konkret fällt mir auf, dass oft der Gestaltungswille nicht stark ausgeprägt ist, und dass, obwohl HR für die Transformation und Zukunftsfähigkeit von Unternehmen so wichtig ist. Wie ist Ihre Einschätzung?
Alexandra Heinrichs: Durch Corona ist HR tatsächlich nochmal ganz anders in den Fokus gerückt. Wir waren „core & center“ aller Veränderungen: von der Kommunikation bis hin zur Einbeziehung des Betriebsrats.
Wir mussten sofort ganz praktische Themen wie Homeoffice-Equipment angehen und dann schnell verstehen, welche Bedürfnisse unsere Mitarbeiter:innen hatten –Stichwort Homeschooling oder Wellbeing. Wir mussten Schutzmaßnahmen und Regeln aufstellen, Fragen wie ‘Wie und wann geben wir Impfbescheinigungen aus’ klären und vieles mehr. HR war wesentlicher Teil unseres Kriseninterventionsteams und hat parallel immer wieder die wichtigen Themen Führung und Kultur im virtuellen Arbeiten adressiert und bespielt.
Was war die größte Herausforderung?
Erstens die schnelle Reaktion auf sich ändernde Gegebenheiten und Vorgaben und zweitens das Thema zielgruppengerechtes Handeln: In unseren Werken gelten andere Schutzpflichten als beispielsweise im Außendienst. Wir haben fast im Wochentakt policies neu geschrieben oder angepasst, je nachdem, was gerade gebraucht wurde. Zudem war es unser erklärtes Ziel, Kurzarbeit zu vermeiden. Wir haben in unserem Aussendienst sehr schnell reagiert und die Kolleg:innen, die im Gastro- und Freizeitbereich eingesetzt waren an die Seite der Kolleg:innen gestellt, die in den Supermärkten geholfen haben, Regale mit unseren Produkten zu bestücken und Bestellungen aufzunehmen.
Nebenher lief ab Oktober auch die Frage: Wie werden und wollen wir eigentlich in Zukunft arbeiten? Ist das Büro in Zukunft nur noch da für soziale Interaktion und Kommunikation?
Und?
Wir haben permanent geschaut: Wo steht das Unternehmen? Wie stellen wir sicher, dass unsere Mitarbeiter:innen fit sind für die Zukunft – gerade nach dem Digitalisierungs-Quantensprung, den wir alle gerade geleistet haben. Wie gehen wir mit diesem Effekt nach der Krise um? Wir haben unsere Mitarbeiter:innen selbst gefragt, wie sie sich ein „new normal“ vorstellen können mit dem Ergebnis, dass fast 70% unserer Kolleg:innen bevorzugt nur noch 2-3 Tage im Büro arbeiten wollen. Unilever hat global mittlerweile ebenfalls den Weg eingeschlagen, flexiblere Modelle zu gestalten mit ein paar Mindeststandards (zB. mind 40% im Büro, enge Abstimmung in den Teams).
Wie sehen Sie nun Ihre Rolle?
Ich habe in früheren Zeiten schon einen großen Wandel erlebt: Von einer eher administrativen Personaler-Rolle hin zum HR Business Partner für Geschäftseinheiten mit einem holistischeren Ansatz, also Arbeit und Mehrwert rund um die Bedürfnisse von Geschäftseinheiten zu bauen.
Heute würde ich sagen sind wir als HR ein Zentralisationspunkt für all die oben genannten Fragestellungen, und zwar nicht nur bzgl. des Troubleshootings in 2020/21 sondern auch mit der vorwärtsgewandten Thematik, wie wir in Zukunft arbeiten wollen und was das für Wohlbefinden, Kultur, Führung und individuelle Produktivität bedeuten wird. HR arbeitet nicht nur in und mit der Organisation, sondern auch an der Organisation als Partner des Business.
Wie sieht es denn aus Ihrer Sicht mit dem Gestaltungswillen von HR aus?
Aus meiner Sicht ist grundsätzlich ein hoher Gestaltungswille vorhanden (und auch die Fähigkeit dazu!), allerdings scheitert dieser mitunter an der konkreten Umsetzung bzw. am Zugang zu den wirklichen grossen Themen. Gefühlt sind viele HR Funktionen noch auf der Suche nach den richtigen Rezepten und Ansatzpunkten. Die Lösungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit bringen einen nicht in die Zukunft, dies führt manchmal zu einem Verhaftetsein und einem Drehen um sich selbst. Man könnte von „Problemparalyse“ sprechen. Allerdings ist das auch eine Generationenfrage, das merke ich immer wieder, wenn ich in meinen externen Personaler-Netzwerken unterwegs bin.
Inwiefern?
Gerade im Mittelstand mit zum Teil noch eher traditionellen Rollenbildern für die HR Funktion fehlt es manchmal an Adaptabilität, Haltung, Schnelligkeit und Flexibilität. Die Lösungskompetenz der HR Funktion wird gar nicht abgefragt. Aber eben häufig auch nicht angeboten. Es geht hier oft zunächst mal darum, dass HR mit an den Tisch kommt, wenn wichtige organisatorische oder strategische Entscheidungen getroffen werden.
Woran liegt das?
Veränderungen werden leider immer noch häufig als Bedrohung wahrgenommen und nicht als Chance. Dann höre ich Sätze wie ‘Mach, dass das wieder weg geht!’ oder ‘Ich hoffe, das betrifft mich nicht”. Was ich mir wünsche, ist Veränderungsagilität, Mut und Neugier!
Wie erleben Sie das bei Unilever?
Tatsächlich ganz anders. Was früher schlicht Personaladministration war, ist weit weg von dem, was HR heute leistet und wofür HR bei Unilever steht. Es geht um Trends, darum, wie die Zukunft der Arbeit aussieht, welche Auswirkungen Digitalisierung, Demographie oder Diversity&Inlcusion auf eine Organisation und die Menschen hat. HR muss stärker daran arbeiten, Lebens- und Arbeitsraum für die Mitarbeitenden zu gestalten, als Coach, Berater und Organisationsentwickler. Gemeinsam mit den Führungskräften an der Organisation arbeiten, ihnen Inspiration und Visionen zu geben, muss das Ziel von moderner HR-Arbeit sein.
Was braucht es dafür?
Ich glaube, es braucht hier eine konstante datenbasierte HR–Arbeit. Wie kann ich durch Daten Insights generieren, mit denen ich Antworten auf strategische Fragen der Organisation geben kann oder mit denen ich Hypothesen bilden und die Aufmerksamkeit meiner Business Partner gewinnen kann? Mit dem Ziel, sie gemeinsam in HR-relevante Lösungen umzuformen. HR muss mehr Spezialwissen aus anderen Bereichen entwickeln, Stichwort “Digital und Business–Acumen”. Einer meiner Mitarbeiter studiert zum Beispiel Coding in Teilzeit. Von ihm lernen wir sehr viel, er erklärt uns Algorithmen und Biases und „übersetzt“ uns gewissermassen, was dies für unsere HR Arbeit bedeuten kann.
Wie genau würde HR in seiner internen Positionierung im Unternehmen davon profitieren?
Ich würde mir noch mehr davon wünschen, damit man innerhalb des Unternehmens noch selbstbewusster auftreten kann. Ins Gespräch mit anderen Fachbereichen zu gehen und zu besprechen, welche HR relevanten Themen aus den Business Goals abgeleitet werden können oder sollten. Es geht um Fragen nach strategischen Prios und wie diese personell unterstützt werden, welche skills&capabilities es braucht und ob die richtigen Menschen auf den richten Themen arbeiten.
Welche sonstigen Herausforderungen haben Sie?
Ein sehr spannender Umstand ist, dass wir bei Unilever fünf Generationen an Bord haben – von der Silver Generation bis Gen Z. Es wäre wichtig, wenn wir es künftig schaffen, den Dialog zwischen diesen Gruppen noch stärker zu fördern, so dass wirklich alle mitgenommen werden und voneinander lernen können. Wir merken schon jetzt beim “reverse mentoring”, wie gut so etwas funktionieren kann. Insgesamt wünsche ich mir, dass HR immer mehr zum Inhaber von „enterprise wide topics“ wird, damit unternehmerischer agiert. Klarheit und Orientierung bieten, das ist heute wichtiger denn je – und so kommen wir auch noch stärker in die Integrationsrolle.
Wie gelingt Ihnen das?
Wir haben schon viele konkrete Massnahmen. So beinhaltet unsere Tätigkeit unter anderem Konfliktmoderation, Purpose–Bestimmung, Feedback-Trainings, das Design von Teamreisen und Einiges mehr.
Viele meiner Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen sind auch als Agile Coaches ausgebildet.
Und unsere Initiativen schließen übrigens auch den Betriebsrat mit ein.
Ich habe mit zwei Betriebsräten z.B. zwei Tage eine Digitalsafari in Berlin gemacht und dabei Start-up-Diskussionskultur, Holacracy und Vieles mehr kennen gelernt. Dabei sind immens viele neue Vernetzungen, Erkenntnisse und Denkprozesse entstanden – bei mir und bei den Betriebsräten, was zu sehr fruchtbaren Diskussionen und konkreten Ideen im Nachgang geführt hat!
Vielen Dank, liebe Frau Hinrichs, für diese eindrucksvollen Einblicke! Dieses Interview ist die dritte Ausgabe unserer Interviewreihe “Pioniere des Wandels”. Lesen und hören Sie weitere Interviews mit Dr. Markus Keddi, Senior Vice President Corporate HR bei der Voith Group und Enrico A. Palumbo, Head HR Learning and HR Early Talent Development bei SAP.